
Während in Japan die jüngsten Ereignisse viel persönliches Leid verursachen, Existenzen, Familien und Leben zerstört werden, wird die Debatte im fernen Deutschland erst so richtig angeheizt: Atomausstieg jetzt!
Man kann in diesen Parolen eine leise Perversion mitschwingen hören – wenn man denn will –, aber darum soll es mir jetzt nicht gehen, mich interessieren in diesem Moment die psycho- und teils auch soziologischen Verhaltensmuster, die man dieser Tage auf Deutschlands Straßen und in einschlägigen Versammlungsorten des Internets erkennen kann. Spätestens seit "Stuttgart 21" kann man eine neue Protestkultur beobachten, die entgegen des bisherigen Demonstrationshabitus einzelner, ziemlich allein da stehender Interessengruppen die gesamte Öffentlichkeit involviert. Im Gegensatz zu schwäbischen Bauvorhaben betrifft die neu aufgewärmte Atomdebatte ein nationales, wenn nicht gar globales Thema; zumindest ist der Stein des Anstoßes unumstritten ein übernationaler.
Dazu ist in diesem Falle allerdings eine Vorbemerkung vonnöten: Die wenigsten von uns haben keine fundierten und diskursfähigen Kenntnisse über Energiewirtschaft und Atomtechnologie. Davon nehme ich mich nicht aus; mein ganzes diskussionstaugliches Wissen beschränkt sich auf medizinische Aspekte radioaktiver Strahlung. Ob Atomkraft wirklich wegzudenken ist und welches Sicherheitsrisiko sie darstellt, kann wohl keiner von uns wissenschaftlich begründet darlegen. Dennoch werden Standpunkte mit einer Vehemenz vertreten, die unter diesem Gesichtspunkt teils ungerechtfertigt, teils lächerlich erscheint.
Wie funktioniert also die Argumentation derer, die in diesen Stunden die Ereignisse in Fernost für deutsche Debatten (miß-)brauchen?
Es scheint viel Furcht im Spiel zu sein. Fakt ist: Die Menge der Strahlung, die derzeit in Fukushima austritt, ist medizinisch gesehen besorgniserregend, jedoch kein Vergleich zu dem, was gemeinhin unter einer atomaren Katastrophe im großen Maßstab angesehen wird*. Was weiß also der Laie über radioaktive Strahlung? "Ist krebserregend, hat damals '45 ganze Städte zerstört." Da ich an dieser Stelle nicht großartig über statistische Zusammenhänge zur Krebsentstehung referieren und den offenkundigen Unterschied zwischen einer Atombombe und radioaktiver Strahlung per se nicht weiter erörtern will, darf man mir an dieser Stelle einfach mal glauben, daß diese emotional aufgeladene Assoziation reichlich unreflektiert ist. Die Furcht steht jedoch unbestreitbar im Raume und scheint eine treibende Kraft zu sein, wenn Forderungen zum Atomausstieg laut werden. Jetzt kommt die Vorbemerkung ins Spiel: Furcht und Unwissenheit über die energiewirtschaftliche Relevanz der Atomkraft führen zu in meinen Augen überschießenden Reaktionen, die ohne diese Konstellation nicht aufgetreten wären.
Die demokratischen Grundrechte sind an dieser Stelle eine Sache, ihre Einforderung eine andere: Es gibt doch allen Ernstes Leute, die glauben, sie könnten den Atomausstieg herbeiführen, wenn sie in Grüppchen von fünfzig, sechzig Leuten unter der Weltzeituhr lahm herumlungerten oder gar Facebook-Gruppen gründeten. Das verstehe ich nicht. Ist da das Grundverständnis für Realpolitik verloren gegangen? Oder kann man den Facebook-Aktivisten den Greenpeace-Effekt attestieren, daß formale Mitgliedschaften in solchen und ähnlichen Gruppierungen nicht selten nur zur Befriedigung des eigenen Gewissens geschehen? Veränderungen – ob sinnvoll oder nicht – kann man so jedenfalls nicht herbeiführen. Die neu erwachte Protestkultur der Deutschen läuft hier ins Leere und karikiert sich so selbst.
Wie man es auch dreht und wendet: Die Debatte bleibt nach wie vor undurchsichtig weil unwissenschaftlich, in einigen Punkten populistisch und unvernünftig und zudem durch Verhalten bekräftigt, daß man nicht anders als lächerlich bezeichnen kann. (Der letzte Kommentar aus obigem Facebook-Ausschnitt bringt das im Übrigen wunderbar auf den Punkt.)
* Um es konkret festzuhalten: Die tägliche Strahlenbelastung direkt am Reaktor von 24 Millisievert entspricht dem Sechsfachen der jährlichen Dosis eines durchschnittlichen Deutschen oder zwölf Kopf-CTs. Das ist viel, aber angesichts der getroffenen Schutzmaßnahmen zu diesem Zeitpunkt keine Gefahr.
PS: Laut tagesschau.de wurde nun eine Strahlendosis von 400 mSv/h gemessen, was die obige Rechnung um ein Vielfaches sprengt. Das entspricht dem Hundertfachen der Dosis des Durchschnittsdeutschen, verursacht dennoch bei einem kurzen Aufenthalt kaum Akutsymptome.
mal wieder wurde mein endlanger kommentar geblocked.
AntwortenLöschenaber in diesem Fall sind mir die leute unter der weltzeituhr und facebookaktivisten lieber als dieser artikel.
deine ratio ist manchmal zum kotzen!
sicherlich hast du recht, aber vielleicht heiligt in diesem einen fall ja der zweck die mittel.
AntwortenLöschen